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In Erinnerung an Xaver Bongard

von Will Oxx

Photo: Thomas Ulrich

Es ist an der Zeit, die Leistungen von Xaver Bongard (BASE #362) zu würdigen und sein Lebenswerk zu feiern. Xaver ist eine wahre Legende. Ich bin stolz, dass ich sein enger Freund sein durfte. „Toto“, wie wir Xaver nannten, war ein Schweizer Bergführer, ein weltbekannter Alpinist und Eiskletterer und der Pionier des BASE-Jumping in der Schweiz. Jeder, der das Glück hatte, Xaver zu kennen, erinnert sich an sein freundliches Lächeln, sein ansteckendes Lachen und seinen grossartigen Sinn für Humor.

 

Ich lernte Xaver 1989 kennen. Unsere Wege kreuzten sich im Yosemite-Tal, als Xaver mich ansprach, weil er vom El Capitan springen wollte und dafür einen Mentor suchte. Ich erinnere mich an seine starke Ausstrahlung und seine wachen Augen. Sofort merkte ich, dass Xaver besonders war. Ich sagte ihm (wie anderen zuvor), dass er vor seinem ersten BASE-Sprung 100 Fallschirmsprünge machen müsse. Ausserdem müsse er lernen, wie man trackt und einen Fallschirm präzise landet.

 

Bereits im nächsten Sommer lief Xaver lebhaft auf mich zu und hielt mir sein Sprungbuch vors Gesicht: „Ich habe 100 Sprünge gemacht und habe meine B-Lizenz.“ Ich kontrollierte seine Ausrüstung und wir zogen uns in den Wald zurück, wo ich ihm zeigte, wie man den Schirm packt, einen schönen Exit macht und nach dem Sprung verschwindet, ohne geschnappt zu werden.

 

Bereits in der darauffolgenden Nacht sprangen wir vom El Cap, der im silbrigen Licht des Vollmonds strahlte. Xavers Freundin Annabelle Crivelli wartete im Tal. Ich werde nie den Ton ihrer weichen Stimme vergessen, als sie in bezauberndem Schweizerdeutsch ins Radio flüsterte, dass der Wind schwach und im Tal alles ruhig war. Unser gemeinsamer erster Sprung war fantastisch. Ich erinnere mich, dass wir eine Gruppe schlafender Rehe auf einer grasbewachsenen Wiese überraschten, als wir aus dem Himmel kamen.

 

Mit diesem Sprung begann unsere enge Freundschaft. In den folgenden Monaten kletterten und sprangen wir viel gemeinsam. Gleichzeitig arbeiteten wir für einen Film, der unsere Leidenschaft für das Klettern und Springen zeigte und mit einem Preis ausgezeichnet wurde.

 

Xaver erzählte mir immer wieder von diesem „wunderschönen Tal“, das in unmittelbarer Nähe zu seinem Wohnort liege. Er sagte, dass die Felsen im Lauterbrunnental dermassen überhängend seien, dass das ganze Tal wie ein Fischglas aussehe. Xaver war überzeugt, dass es in Lauterbrunnen etliche grossartige Absprungstellen gäbe. Und das Beste sei, so Xaver, dass man in der Schweiz nach dem Sprung nicht einmal davonrennen müsse. „In meiner Heimat gibt es eine Bergkultur“, sagte er. „Wir akzeptieren, dass gewisse Dinge passieren können.“ Lauterbrunnen klang für mich wie ein Märchen. Walter „Walt“ Disney wurde durch eine Reise in die Schweiz inspiriert, Disneyland zu erschaffen. Jetzt beschloss ich, den Atlantik zu überqueren, um meine Art der Freiheit zu finden. Was für eine Ironie!

 

1991 reiste ich nach Frankreich, um klettern und springen zu gehen. Nachdem ich einige Monate durch Europa gereist war, rief ich Xaver an. „Du musst sofort hierherkommen“, sagte er. „Ich bin bereits zehn Mal vom Staubbach gesprungen. Du musst Dir dieses Tal anschauen!“ Noch am nächsten Tag fuhr ich mit dem Zug nach Interlaken. Das Märchen konnte beginnen.

 

Ich werde nie vergessen, wie mich Xaver zum ersten Mal nach Lauterbrunnen brachte. Wir standen bei der Kirche und schauten zum Staubbach. Der Wasserfall war grandios! Ich erinnere mich, wie ich mich im Kreis drehte und das Tal betrachtete. Ich war sprachlos. Xaver zeigte mit dem Finger auf alle möglichen Absprungstellen. Viele Felsen waren gelb und orange. Es war offensichtlich, dass hier niemals Wasser herunterlief. Die Schönheit dieses Tals war nicht in Worte zu fassen.

 

Am Abend nach meiner Ankunft kontrollierten wir unsere Ausrüstungen und machten alles bereit. Am nächsten Morgen half mir Xaver, REGA-Mitglied zu werden und wir machten uns auf den Weg zum Staubbach. Wir landeten um die Mittagszeit und die Kirchenglocken läuteten wie verrückt. Dieser erste Sprung in Lauterbrunnen war unglaublich. Wir lachten und umarmten uns. Wie schön das Leben doch war! (Jeder BASE-Springer weiss, wovon ich rede.) Xaver und ich waren nach jedem Sprung unendlich dankbar und glücklich. Dass wir nach einem kurzen Spaziergang ins Dorf etwas Leckeres trinken und essen konnten, machte unser Glück perfekt!

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Lauterbrunnen ist ein besonderer Ort, der geschützt werden muss. Ich freue mich sehr, dass sich die SBA um dieses kleine „Paradies auf Erden“ kümmert. Wir reisten durch die Schweiz und sprangen von unterschiedlichen Exits, wobei wir immer auf die Interessen der Landeigentümer achteten und die Flugplatz-Restriktionen respektierten. Dass ich als Sportler in der Schweiz akzeptiert wurde, hat mich zutiefst berührt. BASE-Jumping ist in meiner Heimat illegal. In den Vereinigten Staaten wird man als BASE-Springer strafrechtlich verfolgt. Ich musste den Atlantik überqueren, um die Freiheit zu finden, die ich mir immer gewünscht habe.

Will Oxx und Xaver Bongard (Foto: Thomas Ulrich)

Thomas Ulrich, ein guter Freund von Xaver, begleitete uns auf zahlreichen Abenteuern und half uns, gute Exits zu finden. Thömi entdeckte beispielsweise den „Pilz“ in der Eigernordwand, als er mit einem Helikopter unterwegs war. (Er zeigte ihn mir und Dave Barlia, nachdem Xaver verstorben war und ich Dave in die Schweiz brachte. Doch das ist eine andere Geschichte.)

 

Einige meiner schönsten Erinnerungen an Xaver sind die vielen Male, wo wir auf unserem Weg zur Absprungstelle Gemsen getroffen haben. Wir kamen um die Ecke und standen ihnen plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Die Bergziegen sahen uns schweigend an und machten erst nach einer langen Weile auf dem Absatz kehr, um uns (so schien es zumindest) den richtigen Weg zum Exit zu zeigen. Der Zauber dieser Begegnung war so stark, dass ich glaubte, das „Heinzelmännchen“ zu sehen!

Xaver Bongard jumping from Staubbach

In den 1990er Jahren kehrte ich in den Wintermonaten regelmässig in die Schweiz zurück, da ich damals auch ein begeisterter Eiskletterer und Wintersportler war. Als wir einmal im Zug sassen, um Richtung „Nose“ zu fahren, begann Xaver mit dem Zugführer zu sprechen. Ich sah, wie er Xaver zunickte und im nächsten Moment sprangen wir aus dem fahrenden Zug in den Tiefschnee. Wir benutzten Seile und Steigeisen, um an die Felskante zu gelangen und bearbeiteten die Absprungstellen mit dem Eispickel.
 

Xaver absolvierte seinen ersten BASE-Sprung in Lauterbrunnen mit der ersten modernen BASE-Ausrüstung, die aus einem Container und nur einem Schirm bestand. (Moe Viletto sprang von der Westwand des Eigers mit einem modifizierten Skydive-Schirm.) Xaver sprang mit der ersten Version des FOX, der ausschliesslich für das BASE-Jumping produziert worden war. Ich hatte dieses System (damals noch ein Prototyp) von Freunden bei der Firma „Basic Research“ ausgeliehen. Alle zuvor benutzten Systeme waren Skydive-Ausrüstungen, die für das BASE-Jumping modifiziert worden waren.

Zum BASE-Springer von heute möchte ich gerne sagen: Pass auf deine Freunde auf! Sei wie ein Hirte in den Bergen: Hinterlasse jeden Ort sauberer als er vorher war. Schenke unserem geliebten Sport etwas Zeit, um ihn zu unterstützen. Teile dein Wissen und deine Fähigkeiten mit denen, die etwas lernen möchten. Fordere dich heraus, aber kenne deine Grenzen und akzeptiere sie. Hör auf, vor der Kamera anzugeben. Halte dein Ego im Zaun. Das Verlangen nach Anerkennung führt zu gefährlichen Entscheidungen und schlechtem Risikomanagement.

Ich musste erfahren, dass in diesem extrem gefährlichen Sport die Momente der grössten Euphorie von Phasen der grössten Traurigkeit abgelöst werden. Xaver starb am 15. April 1994 bei einem Sprung vom Staubbach. Nachdem sich sein Hauptschirm nicht schön geöffnet hatte, zog er den Reserveschirm, der ebenfalls nicht gut öffnete. Xaver hatte sich ein „Sorcerer“-Rig von Vertigo BASE Outfitters angeschafft, da er nicht mehrere Monate für eine neue FOX-Ausrüstung warten wollte.

 

Ich fühle mich mitverantwortlich für Xavers Tod. Als ich in die USA zurückreiste, nahm ich seinen FOX mit, um ihn vom Hersteller warten zu lassen. Xaver und ich hatten bereits einen neuen FOX bestellt, aber die Wartezeit betrug mehrere Monate. Darum entschied sich Xaver, einen Sorcerer zu kaufen.

 

Es sind seither viele Jahre vergangen, aber ich bin immer noch sehr traurig, dass wir Xaver verloren haben. Diejenigen, die zurückbleiben, leiden immer am meisten. In unserem verrückten Streben nach extremen Abenteuern müssen wir innehalten und uns fragen: „Sind unsere Handlungen und Bestrebungen egoistisch?“ Es ist schwierig, ehrlich zu sich selbst zu sein und seine Verantwortung und die verheerenden Auswirkungen unseres Todes auf unsere Familie und Freunde abzuwägen. Aber ja! Lebe deine Träume, verfolge deine Ziele! Strebe nach Wissen und hör nie auf zu lernen. Lass dich nie hetzen! Deine Leistung ist von deiner Tagesform abhängig. Nimm dir Zeit, um dein Material zu kontrollieren. Achte auf die kleinen Dinge. Werde ein Wetter-Experte. Schule dein Urteilsvermögen und lerne, wann es besser ist, zu warten oder umzukehren. Du lernst mehr von den Sprüngen, die du nicht machst als von denen, die du erfolgreich absolvierst. (Es ist so viel einfacher zu springen als es nicht zu tun. Wer möchte schon mühselig vom Berg absteigen, nachdem man endlich oben angekommen ist?) Befolge diese Ratschläge aus Respekt vor den Menschen, die du liebst. An deine Familie und deine Freunde zu denken, zählt zu einem guten Risikomanagement.

 

Xaver und ich haben zehn verschiedene Exits eröffnet - in Lauterbrunnen und ausserhalb des Tals. Viele von ihnen haben wir unseren Freunden gezeigt, aber Xaver und ich wollten die Sprünge nie öffentlich machen. Eine Liste mit den Exits wurde weder zusammengetragen noch publiziert. Xaver war ein bescheidener Sportler aus Freiburg, dem es nicht wichtig war, sich in der Szene einen Namen zu machen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal prahlen gehört: „Der beste Rahm der Welt kommt aus Freiburg“, sagte er damals stolz.

 

Um meine Karriere als Marineflieger und Linienpilot nicht zu gefährden, habe ich niemandem von meinen früheren Abenteuern erzählt. Doch jetzt bin ich pensioniert und darf meine Geschichte frei erzählen. Ich meine, welcher vernünftige Arbeitgeber würde einem durchgedrehten Adrenalin-Junkie erlauben, einen Jet zu starten?

© Will Oxx, 10. Dezember 2021 (Deutsche Übersetzung: Marcel Geser)

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Will Oxx (BASE #41) hat seine Leidenschaft fürs Fliegen nie verloren. Noch heute zieht er einen Fallschirm an, bevor er mit seinem Segelflieger abhebt.
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